Freitag, 10. August 2012

Ich will nicht verrückt werden.

Einmal hatte ich eine neue Zimmernachbarin, eine junge Frau, etwa in meinem Alter, Yasmin hieß sie. Sie erzählte mir, dass sie drei Kinder habe und nur zu einer Routine-Untersuchung da sei. Es sei allerdings irgendetwas schiefgegangen und sie müsse nun über Nacht zur Überwachung bleiben.Wir unterhielten uns ganz entspannt, sie wirkte vollkommen normal auf mich: gepflegt, nett. Kurz darauf wurde sie in ein anderes Zimmer verlegt.
Als ich ihr einige Tage später das nächste Mal begegnete, erkannte ich sie nicht. Ihr Bett stand im Flur der Station, sie saß darauf, starrte irre in die Gegend und brüllte nach einem Arzt. Die Haare standen ihr wirr in allen Richtungen vom Kopf ab, sie wirkte wie um Jahre gealtert und schrie des öfteren vor Schmerzen auf. Zwischendurch gab sie unverständliche, jammernde Laute von sich. Sie war also nicht nur über Nacht geblieben. Anscheinend machten ihre Schmerzen sie zu einem anderen Menschen.
Ungefähr zwei Wochen später war sie immer noch da, ich traf sie am Getränkewagen, als sie sich einen Tee machte. Noch immer schienen ihr die Schmerzen zuzusetzen, sie sah müde aus. Ich erfuhr, dass bei ihrer Untersuchung wohl irgendetwas an der Gallenblase verletzt worden sei, so dass sie nun tage- oder sogar wochenlang nichts essen dürfe und starke Schmerzmittel brauchte. Es sei viel schlimmer als die Geburten ihrer Kinder, sagte sie.

Der Gedanke, vor Schmerzen verrückt zu werden, ist beängstigend. Inzwischen hat mir ein Freund davon erzählt, dass es einen so genannten Vernichtungsschmerz gibt. Ich erinnerte mich an die schlimme Nacht, in der mir schwarz vor Augen wurde und ich panisch die Hände der Ärzte und Schwestern wegschlagen wollte, um jegliche schmerzhafte (und meiner Meinung nach tödliche!) Berührung meiner Bauchdecke zu verhindern. Das war schon ein wenig am Rande des Wahnsinns. Mein Wahnsinn war glücklicherweise schnell vorbei (auch wenn mich die Aussage der Ärzte, "solche Schmerzen können bei dieser Diagnose natürlich immer mal auftreten" nicht sehr glücklich macht).

Für andere endet er nie. Auf der Station lag auch ein junger Mann. Ich sah ihn nur selten mal im Gang, aber hören konnte man ihn immer. Er hatte rund um die Uhr einen Pfleger bei sich, der an seinem Bett saß und beruhigend auf ihn einredete. Ständig rief er "Hallo, ist da jemand?" oder stöhnte vor Schmerzen. Wenn er seine Medikamente bekommen musste oder man ihm Blut abnahm oder sonstiges, geriet er offenbar regelrecht in Panik, so dass am Ende mehrere Schwestern und Ärzte für eine simple Aufgabe benötigt wurden.
Einmal saß der Mann ganz allein im Besucher-Raum. Er war ganz mager, sah ansonsten aber nicht verrückt aus. Also nicht etwa so wie die Patienten in "Einer flog übers Kuckucksnest".

In diese Kategorie passte eher die alte Frau, die nachts immer kreischte. Sie rief mitten in der Nacht laut "Hilfe, Hilfe, sie bringen mich um!" und ähnliches. Die wurde aber nach einigen Tagen weggebracht. Vielleicht entlassen.

Wie schnell man sich an solchen Irrsinn gewöhnt, bemerkte ich kurz darauf. Mein Besuch und ich saßen im Gästeraum. Kommentarlos beobachteten wir, wie ein alter Mann im Schneckentempo seinen Tropf über den Gang schob. Er trug lediglich eine Unterhose.. Als er an der Tür des Mannes mit dem Pfleger vorbeikam, rief dieser "Hallo" - der Alte blieb stehen und glotze in der Gegend herum. Wir zuckten mit den Schultern und spielten weiter Karten.

Ich hoffe, ich werde nie verrückt...

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