Mittwoch, 12. September 2012

Nicht allein im Dunkeln.

Was Freundschaften betrifft, bin ich nicht sehr sentimental veranlagt. Ich sammle keine Poesie-Alben voller kitschiger Kalendersprüche über wahre Freunde und Seelenverwandte in Verbindung mit Sonnenuntergangs-Strand-Fotos. Um ganz ehrlich zu sein, finde ich sowas sogar ziemlich zum Kotzen. Wenn einer meiner Facebook-Freunde solchen Kram verlinkt, bin ich jedes Mal in Versuchung, die Freundschaft umgehend zu kündigen. Grund: Geschmacksverirrung!
Es erscheint mir auch nicht überlebenswichtig, meinen Freunden ständig und überall zu beteuern, wie außerordentlich froh und dankbar ich bin, dass es sie gibt. Ich vergesse einen Freund nicht, wenn er sich eine Weile nicht bei mir meldet. Ich möchte von Freundinnen nicht "Süße" oder "Schatzi" genannt und mit Küsschen begrüßt werden. Ich bin auch nicht gekränkt oder um eine Freundschaft besorgt, sobald man sich keine stündlichen Updates über Twitter, Facebook oder SMS zukommen lässt. Genausowenig behellige ich im Gegenzug die anderen mit Statusmeldungen über meine derzeitigen Schlaf-, Ess-, Einkaufs- oder sonstigen Lebensgewohnheiten.
Im Lauf der Jahre hat es sich also ergeben, dass ich mich hauptsächlich mit Menschen umgebe, die diesbezüglich ähnlich denken. Keine große Gefühlsduselei, einfach leben und leben lassen. Viele habe ich online kennengelernt, über gemeinsame Interessen und Hobbies: Menschen, denen ich auf der Straße oder am Arbeitsplatz womöglich nicht aufgefallen wäre und umgekehrt. Computerspieler, IT'ler, Studenten, schräge Vögel... Entgegen vieler Vorurteile stellten sich nur die wenigsten als Perverse oder Psychopathen heraus. Höchstens als Nerds. Gegen die habe ich nichts (wenngleich bei meinen Eltern vermutlich stets die Alarmglocken läuteten beim Thema "Freunde aus dem Internet"). Und obwohl ich bei einigen immer wusste, was ich an ihnen habe und es bei vielen anderen einfach hoffte - überraschte es mich dennoch, wie sehr meine Freunde in der jüngsten Vergangenheit für mich da waren und sind.
Schon an den ersten Tagen im Krankenhaus bekam ich viele Nachrichten von ihnen. Sie waren geschockt und traurig als sie von meiner Diagnose erfuhren, ließen sich meine neue Nummer geben und meldeten sich. Einige von ihnen fanden so ehrliche, liebe und mitfühlende Worte wie ich sie gar nicht von ihnen kannte oder erwartet hätte. "Wir" sind doch eher unterkühlt. Nüchtern. Un-emotional. Beherrscht. Cool.
Trotzdem heulte ich vor Freude, als ich merkte, dass sogar der "seltsame Viel-Telefonierer" trotz manch fieser Bemerkungen meinerseits einfach für mich da ist, selbst 3 Uhr nachts, wenn ich mich zu Tode langweile oder weine, weil ich mich verlassen und einsam fühle. Bessere Freunde kann ich mir kaum vorstellen.

Als ich 6 Jahre alt war, am Tag meiner Einschulung, saß ein Mädchen neben mir und fragte mich, ob ich eine beste Freundin habe. Ich sagte nein, also beschlossen wir, von nun an beste Freundinnen zu sein. Das sind wir bis heute.Wir waren beste Freundinnen, als wir uns in den nächsten vier Jahren fast täglich stritten. Wir waren beste Freundinnen, als sie wegzog und wir jahrelang nur Briefkontakt hatten. Wir waren auch dann noch beste Freundinnen, als wir beide in unserer Heimatstadt studierten und uns dennoch eher selten trafen. Wenn wir einander brauchten, hatten wir uns: Als ich einige Tage lang keinen Strom hatte, wohnte ich bei ihr. Bei Liebeskummer half stets unsere eigene Milchshake-Kreation aus Grundschultagen: Man nehme einen Liter Milch und mindestens drei verschiedene Sorten Kaba-Pulver. Gut durchmischen und zu zweit innerhalb einer halben Stunde austrinken. Bauchweh garantiert.
Wir sind nicht mehr die sorglosen Kinder von damals. Wir mussten vieles dazulernen und auch vieles ohne einander ertragen, die meisten unserer Wege alleine gehen. Aber jedesmal, wenn ich hinfalle und mich hundeelend fühle, weiß ich - sie ist noch da. Und manchmal werden wir wieder Kinder. Dann legen wir uns mitten auf befahrene Straßen. Und lassen bei Regenwetter Drachen steigen. Und lachen über Bundeswehr-Soldaten.
Ich hatte Angst, ihr zu erzählen, wie es mir geht. Als ich sie anrief, war ich total verheult und hatte einen Kloß im Hals. Meine eigenen Worte kamen mir unwirklich vor: "Ich brauche eine Transplantation, es sieht schlecht aus." Einige Tage später stand sie in der Tür meines Krankenhauszimmers, war hunderte Kilometer weit gefahren um für ein paar Stunden bei mir zu sein. Das ist so ziemlich die beste Freundschaft, die ich mir vorstellen kann.

Außerdem gibt es Freundschaften, die man kaum beschreiben kann. Bei denen der Übergang zwischen "Bekannten", "Freunden" und "Seelenverwandten" irgendwie längst verschwommen ist. Freundschaft, die wellenartig mal stärker und mal schwächer zu sein scheint. Die man nicht in Worte fassen kann und muss.

Diesen einen Freund kenne ich seit ungefähr acht Jahren. Über das Internet. Getroffen haben wir uns nie.
Ich konnte ihm immer mal von meinem Alltag erzählen, wie es mit dem Studium voranging, wie es mit "der Männerwelt" gerade lief, in welche Stadt ich nun gerade wieder umgezogen war. Erstaunlicherweise erinnerte er sich immer an diese Dinge und fragte ab und zu danach, wie es mir ging. Von sich selbst verriet er wenig. Ich kenne seine Stimme, weiß, dass er etwas älter ist, sein Dialekt verrät seine ursprüngliche Herkunft, aber er wohnt schon länger in der Hauptstadt. Sehr viel mehr wusste ich nicht von ihm. Keinen Namen, kein Bild, keinen Beruf - nichts "Persönliches". Und doch so vieles mehr. Wir verstehen uns gut, sind auf einer Wellenlänge. Einen guten Bekannten hätte ich ihn vor einiger Zeit noch genannt.
An einem der ersten Tage im Krankenhaus hatte ich einen verpassten Anruf auf dem Handy. Und eine Nachricht auf der Mailbox. Von ihm. Ich hörte sie kurz nach meiner Diagnose, als ich verwirrt im Patienten-Aufenthaltsraum saß. Von da an rief er oft an, obwohl wir vorher nie telefoniert hatten. Und ich erfuhr vieles: seinen Namen, wo er gerade war, dies und jenes aus seiner Vergangenheit... und nicht zuletzt: dass er schonmal in einer ähnlichen Situation war wie ich nun. Im gleichen Krankenhaus, auf der gleichen Station, bei den gleichen Ärzten. Oft sagte er mir, dass ich bis zum nächsten Anruf durchhalten und kämpfen muss - meistens genau dann, wenn ich dachte, mir geht die Kraft aus. Er gab mir Ratschläge, wie ich allein mit der Dunkelheit um mich herum fertig werden kann und half mir, nicht den Verstand zu verlieren. Eines Tages klopfte er dann persönlich an die Tür und stand da grinsend, mit Blumen. Kurz darauf, noch am gleichen Tag, durfte ich das Krankenhaus verlassen. Eine bessere Freundschaft kann ich mir nicht vorstellen.

Es heißt ja, Freunde seien die Familie, die man sich selbst aussucht. Das mag sein. Jedoch hätte ich mir einige meiner Verwandten gar nicht anders aussuchen wollen, weil sie schon Freunde sind. Eine bessere Schwester hätte ich kaum finden können. Da wir seit Jahren nicht mehr in der gleichen Stadt wohnen, verständigen wir uns oft über das Internet, kurze Anrufe oder SMS. Letztere beinhalten manchmal nur einzelne Worte oder einen Smiley - aber ich weiß trotzdem, was gemeint ist und wie es ihr gerade geht.
So auch eines Abends, als ich völlig gerädert von der Hitze und der Magenspiegelung in meinem Krankenzimmer vor mich hin schwitzte und vor Langeweile nichts anderes zu tun hatte als den Song-Contest in Baku zu schauen. Sie sah ihn auch - und brachte mich mit sarkastischen SMS-Kommentaren bei jedem Beitrag zum Lachen.
Als ich entlassen war, entdeckte ich auf ihrer Internetseite, dass sie in den Wochen zuvor viele traurige Lieder gehört und an mich gedacht hatte. Un-sentimental und cool wie ich bin, heulte ich mal wieder los. Eine bessere Schwester könnte ich mir nicht vorstellen.

Es fällt mir schwer, in Worte zu fassen, was meine Freunde mir bedeuten und wie sehr sie mir auf unterschiedliche Art geholfen haben. Dass sie mich nicht im Dunkeln allein gelassen haben. Wie bedankt man sich für so etwas? Vielleicht sollte ich ihnen doch ein kitschiges Sonnenuntergangs-Foto oder einen abgedroschenen Poesie-Album-Spruch schicken....

Montag, 10. September 2012

Nervös...?

Zur Zeit geht es mir gut.

Die Zahn-OP habe ich ohne größere Probleme überstanden. Die Nachwirkungen der Narkose verschwanden nach zwei Tagen und mir wurde nicht mehr schlecht. Die Schmerzen hielten sich zum Glück ebenfalls in Grenzen und auch die Antibiotika erfüllten ihren Zweck ohne schlimme Nebenwirkungen. Die paar Tage auf der Station waren sogar ganz unterhaltsam - meine Zimmernachbarinnen waren in meinem Alter und wir munterten uns gegenseitig auf. Da wir alle am gleichen Tag unsere OPs hatten, lagen wir am Abend jammernd in unseren Betten, bewaffnet mit riesigen Eisbeuteln für die geschwollenen Wangen - und mussten plötzlich über die absurde Situation lachen. Ich fühlte mich ans Ferienlager erinnert. Dann tat wieder irgendwas weh und wir jammerten weiter.

Aber jetzt geht es mir ja gut. Fast als wäre ich gesund. Nur ein bisschen müde nach zehn Minuten Fußweg. Nur ein bisschen k.o, aber gesund. Nur ein bisschen frustriert darüber, dass mir verdächtig viele Haare ausfallen. Vielleicht kann mir der Friseur da helfen, es könnte auch am psychischen Stress liegen...

Fast gesund bin ich. Ich werde oft gefragt, ob ich nervös sei. Oder ob ich friere. Meine Hände zittern ab und zu recht stark - besonders bei feinmotorischen Aufgaben wie eine Pinzette halten oder einen kleinen Schraubverschluss öffnen oder Kleingeld aus dem Portemonnaie suchen. Letzteres ist besonders charmant an der Supermarktkasse, wenn hinter einem die anderen Kunden warten, dass der vermeintliche Junkie seine letzten Cents zusammengekratzt hat. Ich würde vermutlich das gleiche über mich denken - die vielen blauen Flecken, die Einstiche an den Armen... Zum Glück haben die Berliner sowieso alles schon gesehen, die sagen da nichts.
Das Zittern ist wohl auch ein Symptom der hepatischen Enzephalopathie, aber ich versuche, mich deswegen nicht verrückt zu machen. Bin nur ein bisschen nervös. Und mir ist kalt.

Mittwoch, 29. August 2012

Zurück in der Klinik...

Zur Zeit bin ich wieder für ein paar Tage im Krankenhaus. Da mir im Vorfeld der Transplantation die Weisheitszähne gezogen werden sollten, ließ sich ein stationärer Aufenthalt nicht umgehen - meine schlechte Blutgerinnung hätte das Risiko bei einem ambulanten Eingriff zu sehr erhöht.
Also ging es frühmorgens zum "Check-In" auf die Station, wo ich dann den ersten Tag ausschließlich mit Warterei verbrachte... Auf die Stationsärztin, auf die Blutabnahme, auf das Vorgespräch mit dem Anästhesisten. Zwischendurch durfte sich dann eine Studentin darin versuchen, mir schonmal einen Zugang zu legen. Schaffte sie auch schon nach vier Versuchen und kurz bevor ich ohnmächtig wurde.
Dann: nüchtern bleiben ab Mitternacht und auch nichts mehr trinken. Damit ich mich nicht während der Operation übergeben müsse. Dabei war ich erst nach 15Uhr dran... Man könne mir gern eine Infusion geben, falls der Durst zu stark würde, sagte mir die nette Schwester. Ohje. Der Durst war erträglich, nur das Warten wurde immer quälender. Irgendwann ging es dann los, im schicken OP-Hemd schob man mich zum OP-Saal, wo auch schon ein außerordentlich freundlicher Anästhesist auf mich wartete und mich mit netten Sprüchen aufzuheitern versuchte. Eher erfolglos. Die "Happy Pill", die sie mir zur Angstlösung gegeben hatten, wirkte irgendwie auch nicht. Aber das Lachgas dann schon, ha!
Zwei Stunden später kam ich im Aufwachraum zu mir. Die Zähne taten kein bisschen weh, dafür der Hals umso mehr (dank Intubation). Sprechen fiel mir schwer, doch irgendwie konnte ich der Schwester verständlich machen, dass ich gern noch etwas Schmerzmittel hätte. So ging es dann sorglos zurück auf mein Zimmer.
Dort angekommen, stellte ich fest, dass ich während der Operation scheinbar eine große Menge Blut geschluckt hatte. Dieses landete nämlich gerade auf meinem Hemd, dem Bett und der Schwester, nachdem mir "etwas komisch" geworden war. Das sei aber ganz normal, der Magen möge nämlich kein altes Blut... Toller Trost... So verbrachte ich die Nacht dann mit dem Loswerden des Bluts und allem, was sonst noch im Magen war.
Ansonsten ist die OP aber super verlaufen, alles wie geplant, keine der möglichen Komplikationen trat ein. Zum Glück - denn einen gebrochenen Kiefer hätte ich vermutlich nicht ganz so locker weggesteckt. Bisher seien meine Wangen auch noch gar nicht sooo sehr geschwollen, versichern mir alle. Wäre mir aber auch egal, Eitelkeit ist hier irgendwie fehl am Platz...

Soviel erstmal von hier... Gleich gibt es lecker Suppe.

Freitag, 10. August 2012

Ich will nicht verrückt werden.

Einmal hatte ich eine neue Zimmernachbarin, eine junge Frau, etwa in meinem Alter, Yasmin hieß sie. Sie erzählte mir, dass sie drei Kinder habe und nur zu einer Routine-Untersuchung da sei. Es sei allerdings irgendetwas schiefgegangen und sie müsse nun über Nacht zur Überwachung bleiben.Wir unterhielten uns ganz entspannt, sie wirkte vollkommen normal auf mich: gepflegt, nett. Kurz darauf wurde sie in ein anderes Zimmer verlegt.
Als ich ihr einige Tage später das nächste Mal begegnete, erkannte ich sie nicht. Ihr Bett stand im Flur der Station, sie saß darauf, starrte irre in die Gegend und brüllte nach einem Arzt. Die Haare standen ihr wirr in allen Richtungen vom Kopf ab, sie wirkte wie um Jahre gealtert und schrie des öfteren vor Schmerzen auf. Zwischendurch gab sie unverständliche, jammernde Laute von sich. Sie war also nicht nur über Nacht geblieben. Anscheinend machten ihre Schmerzen sie zu einem anderen Menschen.
Ungefähr zwei Wochen später war sie immer noch da, ich traf sie am Getränkewagen, als sie sich einen Tee machte. Noch immer schienen ihr die Schmerzen zuzusetzen, sie sah müde aus. Ich erfuhr, dass bei ihrer Untersuchung wohl irgendetwas an der Gallenblase verletzt worden sei, so dass sie nun tage- oder sogar wochenlang nichts essen dürfe und starke Schmerzmittel brauchte. Es sei viel schlimmer als die Geburten ihrer Kinder, sagte sie.

Der Gedanke, vor Schmerzen verrückt zu werden, ist beängstigend. Inzwischen hat mir ein Freund davon erzählt, dass es einen so genannten Vernichtungsschmerz gibt. Ich erinnerte mich an die schlimme Nacht, in der mir schwarz vor Augen wurde und ich panisch die Hände der Ärzte und Schwestern wegschlagen wollte, um jegliche schmerzhafte (und meiner Meinung nach tödliche!) Berührung meiner Bauchdecke zu verhindern. Das war schon ein wenig am Rande des Wahnsinns. Mein Wahnsinn war glücklicherweise schnell vorbei (auch wenn mich die Aussage der Ärzte, "solche Schmerzen können bei dieser Diagnose natürlich immer mal auftreten" nicht sehr glücklich macht).

Für andere endet er nie. Auf der Station lag auch ein junger Mann. Ich sah ihn nur selten mal im Gang, aber hören konnte man ihn immer. Er hatte rund um die Uhr einen Pfleger bei sich, der an seinem Bett saß und beruhigend auf ihn einredete. Ständig rief er "Hallo, ist da jemand?" oder stöhnte vor Schmerzen. Wenn er seine Medikamente bekommen musste oder man ihm Blut abnahm oder sonstiges, geriet er offenbar regelrecht in Panik, so dass am Ende mehrere Schwestern und Ärzte für eine simple Aufgabe benötigt wurden.
Einmal saß der Mann ganz allein im Besucher-Raum. Er war ganz mager, sah ansonsten aber nicht verrückt aus. Also nicht etwa so wie die Patienten in "Einer flog übers Kuckucksnest".

In diese Kategorie passte eher die alte Frau, die nachts immer kreischte. Sie rief mitten in der Nacht laut "Hilfe, Hilfe, sie bringen mich um!" und ähnliches. Die wurde aber nach einigen Tagen weggebracht. Vielleicht entlassen.

Wie schnell man sich an solchen Irrsinn gewöhnt, bemerkte ich kurz darauf. Mein Besuch und ich saßen im Gästeraum. Kommentarlos beobachteten wir, wie ein alter Mann im Schneckentempo seinen Tropf über den Gang schob. Er trug lediglich eine Unterhose.. Als er an der Tür des Mannes mit dem Pfleger vorbeikam, rief dieser "Hallo" - der Alte blieb stehen und glotze in der Gegend herum. Wir zuckten mit den Schultern und spielten weiter Karten.

Ich hoffe, ich werde nie verrückt...

Sonntag, 8. Juli 2012

Der Raucher.

Bei meinen "Ausflügen" innerhalb des Klinikgeländes gab es ein paar Patienten, die mir immer wieder begegneten. Einer von ihnen war der Raucher. Er gehörte wie ich auf die Gastro-Station und schien irgendeine Art Krebs zu haben. Jedenfalls sah ich den älteren, abgemagerten Mann oft, wie er sich und seinen Tropf mit letzter Kraft vor die Tür der Lobby schleppte - um dort dann genüsslich zu rauchen. Einmal hörte ich abends einen der Pfleger auf der Station laut schimpfen: "Sie können sich doch nicht hier drin eine Zigarette anstecken! Ihr Zimmernachbar ist an Sauerstoff angeschlossen!"
Nach einigen Tagen (als ich selbst wieder klar genug im Kopf war, andere Menschen wiederzuerkennen), nickte ich ihm im Vorbeigehen zu. Er nickte zurück. So machten wir das dann immer. Manchmal kam zum Nicken auch ein Lächeln dazu, je nach Tagesform.

Vor zwei Wochen musste ich wieder in die Klinik, zu meiner Lebersprechstunde, die im gleichen Gebäude ist wie die Station. Da saß der Raucher auf einer Bank. Diesmal sprach ich ihn an, wie es ihm denn gehe.
Gut, er werde bald entlassen, endlich. Ich winkte zum Abschied und er rauchte.

Frau Müller.

Auf dem Rückweg vom Psychologen zu meiner Station nahm der Krankenwagen noch eine weitere Patientin mit. Frau Müller, wir holten sie von ihrer Chemotherapie ab. Sie war recht alt, ganz mager, zerbrechlich und sehr nett. Ihr Mann sei schon lange tot, erzählte sie mir. Andere Verwandte habe sie auch keine mehr, Freunde ebenfalls nicht, alle schon tot. Nun warten nur noch ihre Katzen auf sie, wenn sie nachhause kommt. Als ich erzählte, dass ich auch mal eine Katze hatte, freute sie sich. "Die merken immer, wenn es einem nicht gut geht."
Ihr ganzes Leben lang kämpfte sie schon gegen den Krebs. Dass sie mal alle ihre Lieben überleben würde, hätte niemand für möglich gehalten.
Wir erreichten die Station und stiegen aus. Sie fragte mich noch, wie alt ich sei. "Wie 27 sehen Sie aber nicht aus. Höchstens 22!" Ich freute mich über das Kompliment. Und schämte mich, dass ich mich freute.
Die schlagfertigste Antwort, die mir einfiel, war: "Sie auch."
Sie lachte und winkte mir zum Abschied.

Freitag, 6. Juli 2012

Was du heute kannst...

Man schiebt ja gern so einiges vor sich her. Unangenehme Aufgaben vor allem. Da geht es mir nicht anders. Ganz oben auf meiner "Mach ich später"-Liste standen auch jahrelang Arztbesuche in jeglicher Form. Vor dem Zahnarzt hatte ich Panik, mein Hausarzt bekam mich nur zu Gesicht, wenn ich mal eine Überweisung, Krankschreibung oder ein Rezept brauchte - und Fachärzte aufzusuchen hielt ich weitestgehend für unnötig ("Ich hab ja nichts"). 
Trotzdem - irgendwie war dann doch manchmal das ungute Gefühl, vielleicht DOCH irgendetwas zu haben... Man liest und hört ja so vieles... Könnte diese leichte Übelkeit nach dem Essen womöglich von einem Magengeschwür kommen? Ist der Migräneanfall am Ende doch ein Gehirntumor? Und Zahnschmerzen hatte ich in den letzten Monaten ja schon manchmal. Oder, fast noch schlimmer: Bin ich jetzt schon so durchgeknallt, dass ich mal zum Psychologen muss?!

Nun habe ich innerhalb von zwei Wochen im Zuge meiner LTX Evaluierung einmal das komplette Programm hinter mir. Um sicherzustellen, dass mein Körper für eine Transplantation geeignet ist, wurde ich gewissermaßen einmal von Kopf bis Fuß untersucht - ob ich das nun wollte oder nicht, Augen zu und durch....
Um den Überblick zu behalten, welche Untersuchungen ich schon hinter mir habe und welche mich noch erwarten würden, bekam ich eine Liste. Während ich diese schrittweise abarbeitete, merkte ich, dass ich mich vor einigen Dingen völlig zu Unrecht gefürchtet hatte. Vor anderen zu Recht.

Der Urologe

Mein erster Gedanke: Was soll ich denn da, als Frau? Da gehen doch schon Männer ungern hin... Horrorszenarien schossen mir durch den Kopf - wer weiß, was der da alles untersuchen wollen könnte.
Also fragte ich den Doktor erstmal, was er denn bei mir feststellen solle. Er war zum Glück sehr nett und erklärte mir, dass er nur mal mit dem Ultraschall meine Nieren und Blase anschauen wird. Das war schnell erledigt, nichts auffälliges festzustellen - und ich hatte mal wieder etwas gelernt.

Röntgen

Einmal komplett durchstrahlen, bitte... Der Transporter-Typ stellte mich in der Röntgenabteilung ab, ich würde dann aufgerufen. Das dauerte allerdings ein bisschen, so dass ich aus lauter Langeweile auf eigene Faust die Funktionen meines Rollstuhls im leeren Wartezimmer testete. Als ich gerade im schönsten Geschwindigkeits-Rausch herumdüste, öffnete sich die Tür und die Schwester, eine lebendig gewordene Barbiepuppe mit starkem polnischen Akzent, rief mich herein.
"Hierhin stellen, so rum drehen, Arme rauf, Arme runter, andersrum hinstellen, einatmen, ausatmen, zack zack zack...". Am Schluss noch auf 3 Formularen unterschreiben, dass ich auch ja nicht schwanger sein könnte - fertig.
Von der Wirbelsäule bis zum Schädel, alles in Ordnung. Nachts im Bett bildete ich mir ein, nun schwach zu leuchten.

Magenspiegelung

 Oh Gott. Nach einigen Horror-Geschichten meiner Zimmernachbarin ("natürlich ohne Betäubung den Schlauch runterschlucken, Sie merken das dann alles...") zitterte ich vor mich hin, als die Ärzte hereinkamen. Der eine, so ein Blonder,  fragte nur "Sie haben wohl Angst? Sie merken doch gar nichts davon, Sie schlafen gleich". Dann unterhielt er sich weiter mit seinem Kollegen. Es gebe da jetzt so eine neue Brotsorte, völlig ohne Kohlenhydrate.
Als sie mir das Propofol injizierten, versuchte ich, ganz besonders nervös auszusehen. Vielleicht bekäme ich dann ja eine außergewöhnlich große Dosis, damit ich auch ja nicht mittendrin aufwache. Weshalb ich mir einbildete, das besser beurteilen zu können als ein Anästhesist, weiß ich auch nicht.
Als ich wieder zu mir kam, war tatsächlich alles schon vorbei. Bis auf ein leichtes Brennen im Hals und der Magengegend für ein paar Stunden spürte ich nichts weiter.
Ergebnis der Untersuchung: habe Krampfadern in Speiseröhre und Magen.

Darmspiegelung

OH GOTT!
Soll man ohnehin alle 10 Jahre mal machen lassen, vorsichtshalber. Hätte ich freiwillig aber nicht getan, wie vermutlich viele andere Menschen auch. Wer will sich das schon vorstellen? Ekelhaft! Um es vorwegzunehmen: Die Untersuchung selbst bekommt man überhaupt nicht mit und weh tut da auch nichts. Das schlimmste ist die Nacht vorher. Schon am Nachmittag sollte ich damit anfangen, 4Liter "Abführmittel" zu trinken, über den ganzen Abend verteilt. Der erste Liter ging auch noch ganz gut runter, das Zeug sah aus wie Wasser und roch nach Apfel-Zimt. Aber der Geschmack wurde von Glas zu Glas unerträglicher... und die Konsistenz: wie eine Art "dickflüssiges Wasser", so entsetzlich - es lässt sich kaum beschreiben. Kaum heruntergeschluckt hatte man auch direkt das Bedürfnis, das Zeug wieder auszukotzen.
Gegen Mitternacht hatte ich endlich die ganze Ladung geschafft und legte mich schlafen... um pünktlich 4Uhr wieder geweckt zu werden, ich solle nun nochmal 2 Liter trinken. Und wenn ich dann auf die Toilette müsse, solle ich doch bitte eine Schwester oder den Arzt holen, damit der dann kontrollieren kann, dass auch alles "clear" ist. Ich fühlte mich erniedrigt. Der letzte Liter Abführmittel kam dann auch direkt oben wieder raus.
Vielleicht machen sie das ja absichtlich: der Patient wird vor der Untersuchung so entkräftet, dass er willenlos alles über sich ergehen lässt. Ich lag dann auch ganz geduldig da, als der Anästhesist meine Arme nach einer brauchbaren Vene für die Narkose absuchte (gar nicht so leicht, da ich mit blauen Flecken und Schwellungen übersäht war). Dann schlief ich auch schon ein.
Nachdem ich alles überstanden hatte, beschloss ich dennoch, mir das frühestens in 10 Jahren wieder anzutun. Oder in 20. Wenn überhaupt. Sie haben ja nichts schlimmes gefunden.

Knochendichte-Messung

Ohje, was kommt denn da auf mich zu? Wird da womöglich in den Knochen gestochen oder etwas ähnlich Beängstigendes angestellt?
Nein. Es wurde lediglich ein kleiner Bereich meiner Hüftknochen mit sehr schwacher Röntgenstrahlung angeschaut. So schwach, dass die Schwestern und Ärzte während der Untersuchung nicht mal den Raum verlassen müssen.
Resultat: meine Knochen sind genau so, wie sie es in meinem Alter sein müssen.

Der HNO-Arzt

Das Gebäude, indem sich die HNO-Abteilung befindet, liegt genau gegenüber  "meiner" Station. Dennoch war ich überrascht, mich plötzlich in einer völlig anderen Welt wiederzufinden.Obwohl es lediglich darum ging, meine Nasen-Nebenhöhlen anzuschauen, wurde ich dermaßen fürsorglich von der netten Schwester und dem ebenfalls sehr netten Arzt umsorgt - da wäre ich glatt noch ein paar Stunden länger geblieben. Bestimmt hätten sie mir auch noch einen Cocktail mit Schirmchen gebracht, wenn ich darum gebeten hätte. Aber so dreist bin ich nicht. Und darf ja keinen Alkohol.

Der Zahnarzt

Ohje, der schimpft bestimmt... Mein letzter Zahnarztbesuch lag viel zu lang zurück, zwischenzeitlich hatte ich dann und wann mal Zahnschmerzen gehabt und diese ignoriert so gut es ging. Wer weiß, was der mir nun vorwerfen würde. Vielleicht müsste er sogar Zähne ziehen oder direkt mit dem Bohrer loslegen? Auf jeden Fall machte ich mich auf einen belehrenden Vortrag gefasst, als ich im Wartezimmer saß.
Der kam dann zwar auch - aber anders als erwartet. Schlimme Löcher seien da keine, sagte mir der Doc. Dennoch hält er meine Weisheitszähne für "nicht erhaltungswürdig" und empfahl mir, sie vor meiner Transplantation ziehen zu lassen. Drei Stück. Na klasse...
Später, mit einem neuen Organ und unterdrücktem Immunsystem sei ein solcher Eingriff viel zu riskant, also müsse man das rechtzeitig erledigen, damit die Zähne nicht noch zu einem Problem werden.
Dann gab er mir noch mit auf den Weg, wie wichtig es ist, seine Zähne gut zu pflegen und sich auch zum Zahnarzt zu trauen - gerade der Mundraum bietet an vielen Stellen Angriffspunkte für Infektionen. Ich müsse mir darüber im Klaren sein, dass ich mir viele Sorgen ersparen könne, wenn ich meine (bisher noch sehr guten) Zähne pflege und auf sie aufpasse.

Die Psychologin

Ein wenig wunderte es mich schon, dass ich zu einem so genannten Psychosomatik-Konsil sollte. Doch die Ärztin erklärte mir im Verlauf unseres Gespräches, weshalb: Natürlich müsse man bei Transplantationspatienten im Vorfeld klären, ob diese sich der Verantwortung bewusst seien, die ein neues Organ mit sich bringt. Man muss regelmäßig alle wichtigen Medikamente einnehmen und einige Einschränkungen im Alltag in Kauf nehmen, denen vielleicht nicht jeder Mensch gewachsen ist. Dies sei jedoch vor allem bei Alkoholikern oder Drogenabhängigen der Fall, die sich innerhalb kurzer Zeit auch eine neue Leber kaputt-trinken würden. Ich solle mir da keine Sorgen machen.
Gut.

Der Anästhesist

Ein sehr entspannter Mensch. Er versicherte mir, dass ich im Falle einer Operation absolut nichts mitbekommen würde. Als ich andeutete, dass mir vor allem die vielen Kanülen, Zugänge und womöglich künstliche Beatmung Angst machen, erklärte er mir, dass man bei einer solchen OP absolut alles unternehme, um dem Patienten Stress zu ersparen.
Soll heißen: Ich kann mir angstlösende Medikamente und starke Schmerzmittel geben lassen (zum Teil sogar selbst dosieren in den ersten Tagen nach dem Eingriff). Ordentlich zudröhnen und gut. Damit kann ich leben!

3D-CT mit Gefäßdarstellung, Lungenfunktionstest, Echo, EKG

Diese und noch ein paar andere Tests wurden nebenbei auch noch durchgeführt. Das sind so Dinge, von denen in (von mir sehr geliebten) Arzt-TV-Serien immer mal wieder die Rede ist. Und die für den Laien natürlich besonders beeindruckend klingen.
Alles überhaupt nicht beängstigend. Beim CT liegt man ein paar Minuten still und bekommt nach einer Weile ein Kontrastmittel, damit die Blutgefäße gut dargestellt werden können. In meinem Fall wurde das ganze sogar in 3D gemacht. Cool. Der Lungenfunktionstest war ebenfalls nicht mit Schmerzen verbunden: man pustet kräftig in ein Röhrchen hinein, ein paar mal gegen eine Art Luftwiderstand.
Ein "Echo" ist, wie ich nun weiß, eine Ultraschalluntersuchung des Herzens. Und für ein EKG werden lediglich am Körper einige Elektroden auf den Körper geklebt.
Nachdem ich all diese Untersuchungen auf meinem Zettelchen angekreuzt hatte, wusste ich: ich habe ein super Herz, super Lungen, super Gefäße. 


Aus diesem Untersuchungs-Marathon nehme ich doch so einige Erkenntnisse mit. Manchmal ist es dann doch die bessere Entscheidung, einfach mal zum Arzt zu gehen, wenn man ein ungutes Gefühl hat. Viele schlimme Dinge werden einem dort ja nicht angetan - und man muss nicht monatelang mit der Ungewissheit herumlaufen, dass vielleicht irgendetwas nicht in Ordnung sein könnte
Und was sind schon ein paar Nadelstiche für einige Sekunden im Tausch gegen die beruhigende Gewissheit, dass alles völlig in Ordnung ist...?



Der Nocebo-Effekt

Gerade eben las ich einen Bericht über den sogenannten Nocebo-Effekt. Quarks&Co widmete dem Phänomen sogar kürzlich eine eigene Sendung und zeigte einige Ergebnisse wissenschaftlicher Studien.

Offenbar spielt die Erwartungshaltung von Patienten bei der Einnahme von Medikamenten eine sehr große Rolle. Geht man davon aus, dass bestimmte Nebenwirkungen auftreten können (beispielsweise nachdem man den Beipackzettel gelesen hat), so ist es wesentlich wahrscheinlicher, tatsächlich unter diesen zu leiden. Diese interessante Feststellung entspricht durchaus meinen eigenen Erfahrungen.

Werde zukünftig versuchen, meine Medikamente besonders optimistisch und voller Vorfreude auf die heilende Wirkung einzunehmen! Schaden kann es nicht...

Sonntag, 17. Juni 2012

Die Studenten.

Da ich in einem Lehrkrankenhaus behandelt wurde, hatte jeder meiner Ärzte auch eine Schar Studenten, die bei ihm lernten. Diese wollten natürlich auch mal auf "echte Patienten" losgelassen werden und sollten dazu die Gelegenheit bekommen. Dankbarer Test-Patient in diesem Fall: ich. Im Laufe der Zeit lernte ich viele kennen...

Anfangs war ich noch überrascht, als plötzlich der Arzt, der mir am Vortag eine Magenspiegelung verpasst hatte, in der Tür stand. Übrigens sah der aus wie ein bekannter britischer Fernseh-Koch, wie passend. Jedenfalls fragte er nun, ob es für mich in Ordnung wäre, wenn einige seiner Studenten mal bei mir eine Visite üben, sprich: nach meinen Symptomen fragen, Herz und Lunge abhören, Bauch abtasten etc. Klang nicht schlimm und ich fühlte mich an diesem Tag fit, also stimmte ich zu.
Wer gern TV-Arzt-Serien verfolgt, wird die Prozedur kennen: "Das hier ist Frau H., wurde vor einer Woche eingeliefert mit Symptom X und Symptom Y, wie würden Sie weiter vorgehen...?" und dann raten die Studenten, zählen mögliche Ursachen auf, die sie irgendwo im Lehrbuch gelesen haben. Das fand ich auch selbst ganz aufschlussreich, weil sie dabei auch erklären mussten, warum sie genau welche Stelle am Bauch abtasten, was sie da zu fühlen oder hören hoffen. Den Rand der Leber zu finden scheint übrigens nicht ganz leicht zu sein, dazu muss man wohl am Rippenbogen recht stark Druck ausüben. Aber man kann offenbar von außen tatsächlich ertasten, wie sich die Oberfläche des Organs anfühlt - eine gesunde Leber ist ganz glatt, eine kranke eher "löchrig" wie ein Schwamm.

Im Lauf der nächsten Wochen hatte ich sehr häufig solche Besuche, irgendwann kam ich mir schon vor wie ein Tier im Zoo. Je nachdem, wie weit die Studenten in ihrem Studium waren, fiel die Visite kürzer oder länger aus, manche stellten nur Fragen und sollten dann eine Diagnose abgeben, andere sollten eine komplette Untersuchung üben und zwei Studentinnen hatten sogar ihre Staatsexamens-Prüfung. Sehr aufregend, da war dann der Chefarzt und noch einige andere wichtig aussehende ernste Herren anwesend, während die nervösen Nachwuchs-Ärzte mich über die Farbe meines Urins befragten und mir ihre kalten Hände unter den Rippenbogen schoben.

Nach und nach kam ich mir ohnehin vor wie in einer Fernsehserie: abgesehen von meinen eigenen, unwirklich scheinenden Erlebnissen, sahen viele der Ärzte und Studenten unheimlich "hollywoodreif" aus. Je wichtiger der Arzt, desto gestriegelter die Frisur. Aber auch mein "Labor-Kumpel", wie ich ihn irgendwann nannte (frisch von der Uni, er durfte auf der Station die leichten Aufgaben wie Blutentnahme, EKG usw machen und kam täglich pünktlich zum Frühstück bei mir vorbei): Vielleicht war er beim Casting für Grey's Anatomy durchgefallen und deshalb richtiger Arzt geworden. Der hatte "Elite" geradezu auf der Stirn stehen, mit seiner schicken Armani-Brille. Aber er war nett. Trotzdem komisch, von einem Gleichaltrigen gesiezt zu werden. Ich hab dann manchmal "Du" gesagt, dann lieber doch nicht mehr. Bin ja kein Arzt.

Und zum Glück gab es ja noch Dr. W, meinen Lieblingsarzt. Der war für die ganze gastroenterologische Station zuständig und kein Hepatologe (=Leberspezialist). Er sah von früh bis spät müde und abgekämpft aus, sein dünnes Haar stand ihm in allen Richtungen vom Kopf ab und alle Schwestern, Oberärzte und Patienten schienen ununterbrochen nach ihm zu suchen. Aber er war nett und fragte mich oft, wie es mir geht und merkte sich alles. Der guckte mich auch immer ganz mitleidig an und gab mir für jedes Wehwehchen die passenden Tabletten.
Und Studenten hatte er auch keine.

Dienstag, 12. Juni 2012

Frust.

Während der Zeit im Krankenhaus und zum Teil auch jetzt noch stieß ich immer wieder an meine körperliche und seelische Belastungsgrenze. Trotz vieler Lichtblicke, Hoffnung und Beistand von vielen Seiten war ich oft regelrecht verzweifelt und frustriert. Es gab ganz unterschiedliche "Frust-Quellen":

Mein Körper gehorcht mir nicht.

Oft verwirrten mich unerwartete Reaktionen meines Körpers auf gewohnte Dinge. 
Einmal wachte ich nachts auf, wollte zur Toilette gehen, kein Thema. Ich stand auf - plötzlich drehte sich alles, mir war übel. Schmerzen im Oberbauch, sehr heftig. Ich wurde immer mal wieder nach der Schmerz-Skala befragt (1 bis 10; 10 ist so schlimm wie man es sich nur vorstellen kann). Das gerade war eine 8. Ich klingelte nach der Schwester, konnte kaum sprechen vor Schmerz, stammelte wohl irgendwie, dass ich ins Bad wolle. Jetzt bloß nicht auch noch in die Hose machen... Sie wollte mir helfen, ich stand auf - und erwachte eine Minute später auf dem Boden liegend. Wow, so fühlt es sich an, ohnmächtig zu werden. Die Schmerzen erreichten jetzt die 9, ich konnte kaum sehen, hörte nur Stimmen aus der Entfernung. "Sie ist zusammengebrochen." "Schnell, in den Rollstuhl!" Irgendwelche Hände packten mich, hievten mich hoch. Schmerzen. Nicht in die Hose machen!!  Nochmal ein Blackout, dann lag ich im Bett, eine Stimme sprach zu mir (muss die Ärztin gewesen sein). Man gebe mir jetzt ein Schmerzmittel, dann werde es besser. Ich wimmerte, konnte nur mit Mühe einzelne Worte hervorbringen. Bloß nicht meinen Bauch berühren, sonst sterbe ich. Nach gefühlten Stunden wirkte das Zeug, ich war schweißüberströmt, mir war kalt und heiß zugleich. Ich kam mir entwürdigt vor. Wenigstens nicht in die Hose gemacht. Trotzdem den ganzen nächsten Tag geheult.

Einmal saß ich recht entspannt nach einem ruhigen Samstagmorgen mit meinem Besuch zusammen, freute mich, nicht allein zu sein. Von einem Moment auf den anderen wurde mir übel. Um die anderen nicht zu beunruhigen, behauptete ich, mal eben auf die Toilette zu müssen. Dort angekommen, übergab ich mich ins Waschbecken - Blut überall. Ein Rückschlag. Bei einer Magenspiegelung einige Tage vorher war festgestellt worden, dass sich aufgrund des Leberversagens Krampfadern in Magen und Speiseröhre gebildet hatten. "Blutungen lebensgefährlich" hatte ich irgendwo gelesen, Horrorszenarien schossen mir durch den Kopf.
Schnell saubergemacht, den Besuch abgewimmelt ("Ich bin sehr müde, tut mir leid"), danach zum Stationsarzt. Er sagte, das könnten auch lediglich Nachwirkungen der Magenspiegelung sein und schickte mich ins Bett. Ich solle mich melden, wenn es schlimmer würde. Wurde es nicht.
Ich ärgerte mich, kam mir hysterisch vor. Und allein war ich nun auch noch. Scheiße.

Ganz besonders entmutigend und frustrierend waren auch die ganz alltäglichen Dinge, die ich plötzlich nicht mehr allein erledigen konnte. Manchmal war ich einfach völlig entkräftet, konnte kaum einen Löffel festhalten, eine Schublade öffnen wurde zur fast unschaffbaren Aufgabe, mir einen Tee vom Getränkewagen im Gang holen ein Vorhaben, das höchstens nach stundenlanger Planung (Tasse mitnehmen, Hausschuhe anziehen, Perfusor vom Netzkabel nehmen und unter den Arm klemmen, Zimmerschlüssel und Taschentücher nicht vergessen... habe ich jetzt die Tasse dabei?) erledigt werden konnte. 
Eines Tages war ich gerade wieder von einer solchen Weltreise zurück, lag erschöpft im Bett, wollte nur noch etwas fernsehen und dann schlafen. Mein linker Arm war an den Perfusor angeschlossen, die rechte Hand zugeschwollen von einer entzündeten Kanüle. Plötzlich flog ein riesiger Falter zum Fenster herein, flatterte vorm Bildschirm herum, dann direkt auf mich zu. Ich konnte mich nicht wehren, er flog knapp an meinem Kopf vorbei, ich hörte ihn nur noch außerhalb meines Sichtfeldes brummen. Klasse. Können Insekten jemanden auslachen? Wegen sowas die gestresste Nachtschwester zu rufen erschien mir irgendwie unangebracht. Also wieder aufstehen... Vorsicht mit der schlimmen Hand. Perfusor vom Netzteil abziehen (um mich weiter als 2 Meter vom Bett wegbewegen zu können... die Dinger haben scheinbar einen so schwachen Akku, dass sie keine ganze Nacht ohne Strom bleiben können... Wenn der Akku fast leer ist, piepen sie so laut, dass man es auf der ganzen Station hört), Insekten-Vernichtungs-Werkzeug suchen (zusammengerollte Zeitschrift)... jetzt war das Vieh natürlich weg. Einfach so. Kein Brummen, kein Flattern, nichts. Nach 20minütiger Suche legte ich mich wieder hin. 
Da war er wieder. 
Ich resignierte.

Im Laufe der Zeit hatte ich eine gewisse Routine für "schwache Tage" entwickelt, doch auch heute noch kann es vorkommen, dass mir die Tränen kommen, wenn mir ein Kugelschreiber unters Sofa rollt oder ich eine Wasserflasche nicht aufschrauben kann.

Wofür halten die mich?

Viele verschiedene Ärzte, Schwestern und Pfleger stellten mir Fragen. Oft mehrmals am Tag dieselben Fragen, immer wieder. Mehr als einmal dachte ich "Steht das denn nicht alles in meiner Patientenakte?". Dass nicht jeder Arzt auf dem aktuellen Stand war, nicht jeder für alles zuständig, nicht jeder ein Leber-Spezialist... Diese Zusammenhänge wurden mir erst im Nachhinein klar. Bis dahin war auch diese Fragerei eine Quelle der Frustration.
Über meine Symptome Auskunft zu erteilen, war natürlich nicht schlimm. Jedoch musste ich auch sehr unangenehme, peinliche oder einfach beleidigende Fragen beantworten. Es gibt viele verschiedene Dinge, die ein akutes Leberversagen verursacht haben könnten, abgesehen von meiner Vorerkrankung. Diese mussten die Ärzte erstmal ausschließen. Da stand dann also der Prof. Dr. Soundso vor meinem Bett, glotze auf mich herab und fragte mit hochgezogener Augenbraue:

"Waren Sie in letzter Zeit im Ausland?"
"Trinken Sie gern mal Alkohol?"
"Haben Sie schonmal Drogen genommen?" ... "Wirklich nicht?" .... "Sie können es ruhig zugeben..." ... "Nicht mal auf einer Party etwas angeboten bekommen?"
 "Haben Sie häufig ungeschützten Geschlechtsverkehr mit wechselnden Partnern?"  (abschätziger Blick auf meinen Freund)  "Haben Sie sich schonmal auf HIV testen lassen?" (wieder zum Freund gucken) "Dann machen wir das mal."
"Und gegen Ihre Migräne nehmen Sie einfach irgendwelche Pillen?"
"Wie sind denn sonst so Ihre Lebensumstände?" (nochmal den Freund von oben bis unten mustern).

Nach diesem Gespräch war ich völlig vor den Kopf gestoßen. Wofür hielten die mich, nein uns, denn? Natürlich, ich war in ziemlich desolatem Zustand. Meine vor Monaten noch knallrot gefärbten, dann halbherzig schwarz übertönten Haare standen mir in allen Richtungen vom Kopf ab, überall zierten mich blaue Flecken und Blutspritzer. Mein Freund, übrigens mit festem Job und geregeltem Einkommen, sah auch nicht fit aus: völlig fix und fertig, immer schlaflos vor Sorge, jeden Tag schnell in Jeans und T-Shirt ins Krankenhaus gehetzt sobald ich ihn brauchte, abends dann oft noch zur Arbeit bis spät in die Nacht, blass war er, abgekämpft... Aber wir sind doch keine Junkies!
Später stellte sich der Prof. Dr. als DER Leber-Spezialist heraus. In meiner Akte las ich, dass er genau die Dinge angeordnet hatte, die dafür sogten, dass es mir besser ging. Und bei den nächsten Begegnungen war er immer sehr nett.
Trotzdem.

Warten, Warten, Warten...

Einen großen Teil der Zeit verbrachte ich damit, auf irgendetwas oder irgendjemanden zu warten.
Morgens sagte mir die Schwester mein "Tagesprogramm" an: Visite ab 9Uhr, Termin zum Ultraschall 10.30Uhr, vorher wird nochmal Blut genommen und am besten gleich noch schnell das EKG. Ich solle auf dem Zimmer bleiben und mich bereit halten. 
Ich war sowas von bereit! Und zwar schon seit 8.45Uhr, vorsichtshalber. Bis 10.20Uhr kam niemand. Ich musste dringend pinkeln. Okay, nur schnell eine Minute ins Bad, es würde ja nicht gerade jetzt jemand...
"Wo ist denn die Patientin aus Zimmer 13???"
Ich beeile mich, reiße die Badezimmertür auf - niemand mehr da. Klasse.
So lief das im Grunde jedes mal, ich habe mehrmals die Visite verpasst auf diese Art. Der Arzt ging dann zum nächsten Patienten und schaute mit etwas Glück irgendwann gegen Abend nochmal vorbei. Oder gar nicht. Oder ich war gerade wieder im Bad.

Aus Versicherungsgründen durfte ich zu den meisten Untersuchungen nicht allein gehen (könnte mich verlaufen oder unterwegs hinfallen etc). Manchmal konnte ich auch gar nicht, sei es wegen Kreislaufproblemen oder weil ich gleich im Bett hingebracht werden sollte (zur Magenspiegelung z.B., damit sie mich hinterher gleich wieder wegbringen konnten). Es musste also immer ein Transport bestellt werden, der mich über das (unglaublich große) Klinikgelände schieben durfte. Meistens im Rollstuhl, ob ich wollte oder nicht. Leider waren diese "Transporter" zeitweise total unterbesetzt, so dass ich nach einer Untersuchung mitunter fast 2 Stunden noch im Wartebereich rumhängen durfte, bis einer der Jungs auftauchte und mich zurück auf die Station schob. Irgendwann kannte ich sie sogar schon alle. Einer war auch 27, wie ich. Der hatte total Mitleid und fragte mich alles mögliche, während er mich gefühlte 2km durch Gänge, Korridore, Schleusen, Aufzüge, Rampen und Türen rollte. Ein anderer schob mich schwindelerregend schnell durch die Cafeteria, am Kiosk vorbei, ins Nebengebäude und gab stumm meine Akte an der Anmeldung zur Untersuchung ab. Zum Lungenfunktionstest durfte ich sogar im Krankenwagen fahren, cool. Das Gelände ist wirklich sehr groß. Wir holten unterwegs gleich noch eine andere Patientin ab und machten Smalltalk. Der Typ erinnerte mich an meinen Fahrlehrer.
Am tollsten war mein Ausflug nach Berlin-Mitte, zum Psychosomatischen Konsil, das konnte nur dort gemacht werden... Der Krankenwagen war nicht irgendsoein billiges Klappergestell wie einige andere, sondern ein richtiger, wo auch Charité außen dransteht. Ich weiß nicht, warum mich das so beeindruckte. Vielleicht wegen der Klima-Anlage. Oder weil ich so mal ein bisschen was von der Stadt sehen konnte. Oder ich war doch noch etwas benebelt. In der "echten Charité" (nicht nur der Campus Virchow-Klinikum, wo meine Station war) kam mir alles super toll vor. Wie in einem Hotel. Sogar mit Wasserspender im Wartezimmer. Nach einer Stunde Warten auf die Ärztin war es schon weniger toll. Aber der Blick aus dem Fenster - traumhaft. Da lag eine Broschüre auf einem der Stühle. Eine Studie für pädophile Männer, es würden noch Probanden gesucht. Ich setzte mich ans andere Ende des Raumes und wartete.
Doch nicht so toll hier, auch recht warm. Blöde Warterei. Inzwischen kam schon Godot vorbei, er sei dann jetzt da. Meine Ärztin aber nicht.
Nach dem zehnminütigen Gespräch sollte ich noch einen Fragebogen ausfüllen, man rufe nun auch gleich den Rücktransport für mich.Der kam dann schon nach eineinhalb weiteren Stunden. Unterwegs noch eben eine andere Patientin holen. Dauerte bloß dreißig Minuten. Abendessen verpasste ich. Hatte noch eine Lakritzstange aus dem Kiosk und ein Brötchen vom Frühstück in meinem Schrank gebunkert. Trotzdem doof.

Fortsetzung folgt...

Mittwoch, 6. Juni 2012

Das muss doch zu schaffen sein.

Heute geht es mir ganz gut. Langsam habe ich ein besseres Verständnis dafür, wann und wie stark die Medikamente in meinem Körper wirken, mit welchen Nebenwirkungen ich zu rechnen habe und wie ich diese einigermaßen in den Griff bekommen kann. Gegen einiges bin ich relativ machtlos, klar.
Aber was mir in all der Zeit immer wieder auffiel: Sobald es mir psychisch besser geht, fühle ich mich auch körperlich stärker, ertrage Schmerzen leichter, bin optimistischer. In den letzten Tagen las und recherchierte ich viel, wälzte mich durch Zahlen, Statistiken, Lebenserwartungs-Prognosen, Erfahrungsberichte. Sehr deprimierend.

Na und?

Ich will doch leben, verdammt. Ich bin erst 27, die ganze Welt sollte mir noch offen stehen!
Und da standen eben auch, ganz am Rande, Worte wie: "Heilung", "unerklärlich", "ÜberlebensCHANCE", "es ist in seltenen Fällen schon vorgekommen, dass...". In all diesen Fällen scheint vor allem auch der Lebenswille der Patienten eine große Rolle gespielt zu haben. Die Kraft, an Besserung zu glauben und zu kämpfen.

Ich wäre gern so ein Fall.
Bisher scheint auch nicht alles verloren zu sein. Ein guter Freund, der in den letzten Wochen immer genau die richtigen Worte für mich fand, erzählte mir von seinem eigenen Kampf gegen eine schlimme Krankheit (wobei wir feststellten, dass er einige meiner jetzigen Ärzte auch schon kennt). Auch er kämpfte sich selbst wieder in sein Leben zurück. Es geht also, es ist nicht unschaffbar. Und ich bin nicht allein.

Nach dem eher schwachen Tag gestern zwang ich mich heute also, mich genau an alles zu halten, die Medizin zur rechten Zeit zu nehmen, egal ob mir davon schlecht wird oder nicht. Und ich zwang mich vor allem, daran zu glauben, dass alles besser wird.

Und mir wurde nicht schlecht.

Es wird alles besser werden.

Schonungslos alles aufschreiben.

Es ist erstaunlich, was man alles durchstehen kann. Wie viel Körper und Psyche aushalten.

In den letzten Wochen erlebte ich Dinge, die anderen Menschen (zum Glück) ein Leben lang erspart bleiben. Oft dachte ich "Das ist wie im Film".

Meine "Highlights" des Monats Mai. Und Lowlights, sozusagen, erstmal ganz grob und ungeordnet:

Innerhalb einer Woche nahm ich fast 20kg zu (Wasseransammlungen im Körper, vor allem im Bauchraum, aufgrund des Leberversagens, der Fachausdruck dafür lautet Aszites, in den Beinen, Armen, Gelenken waren es "nur" Ödeme). Keine meiner eigenen Hosen und Hemden passte mehr. Ich schämte mich.
Genauso schnell verlor ich dieses Gewicht wieder (durch Medikamente). Der Kreislauf spielte daraufhin verrückt, genauso natürlich der Mineralhaushalt des Körpers. Täglich Unmengen (=literweise) an Nahrungsergänzung zu mir zu nehmen, fiel und fällt mir schwer, muss aber sein.
Vor allem in den ersten Wochen zweifelte ich an meinem Verstand und bestand darauf, dass mein Freund bei den Gesprächen mit Ärzten stets anwesend war, um sich alles zu merken. Zu Recht: Ich zeigte zunehmend stärkere Zeichen einer Hepatischen Enzephalopathie, mein Gehirn arbeitete nicht mehr so wie es sollte. Zu meinem Glück führte das jedoch dazu, dass ich umgehend in die Berliner Charité verlegt wurde.
Dort wurde dann damit begonnen, mich für eine Transplantation zu evaluieren. Das bedeutet, ich wurde von Kopf bis Fuß durchgecheckt, ob (bis auf das Leberversagen und dessen Begleiterscheinungen) alles an mir gesund genug ist, um mit einem solchen Eingriff fertig zu werden - oder ob es eventuell noch "Schäden" gibt, die man lieber im Vorfeld einer Transplantation beheben sollte. Im Verlauf dieser Untersuchungen erging es mir teilweise sehr schlecht (das ist der Teil, den ich empfindlichen Gemütern lieber ersparen würde):

      - Ich hatte Schläuche, Kameras und/oder Nadeln in jeder erdenklichen Körperöffnung.
      - Ich blutete aus jeder erdenklichen Körperöffnung.
      - Ich kotzte zu jeder Tages- und Nachtzeit, allein oder im Beisein von Ärzten, Verwandten oder völlig Fremden, mal in hohem Bogen oder still vor mich hin, mal verheult und verschämt, mal ganz lässig nebenher. Rekordverdächtig (und filmreif) war das Einsauen des kompletten Patientenbadezimmers in wenigen Sekunden (zum Glück hatte ich nur Wasser im Magen, ich schämte mich dennoch).
       - Ich hatte unfassbare Schmerzen.
       - Viele Ärzte und Schwestern waren sehr nett und erklärten mir so gut es ging, was bei der jeweiligen Untersuchung ablief. Leider waren diejenigen, die das nicht taten, genau die, vor denen ich die größte Angst hatte. Nach der gynäkologischen Untersuchung beispielsweise fühlte ich mich regelrecht "misshandelt". Der (männliche und unterkühlte) Arzt und sein Kollege sprangen völlig unsensibel mit mir um, obwohl ich mein Unbehagen deutlich äußerte. Ich wollte nur noch allein sein und heulen.
       - Überhaupt heulte ich sehr viel, oft stundenlang. Mal hysterisch und verzweifelt, mal einfach still vor mich hin, beim Gespräch mit Ärzten, am Telefon mit Familie und Freunden, in meinem Zimmer und unterwegs. Wenigstens dafür habe ich mich nie geschämt.
       - Mehr als einmal dachte ich, ich sterbe.
       - Ich ekelte mich vor mir selbst, vor allem an Tagen, an denen ich durch Schläuche, Medikamente oder Schmerzen daran gehindert wurde, zu duschen, mir die Haare zu waschen, mich wenigstens ein bisschen vorzeigbar zu fühlen.
       - Vor allem anfangs schämte ich mich sehr. An meinem Körper tauchten überall blaue und schwarze Flecken auf, deren Ursache ich mir oft erst im Nachhinein erklären konnte. Auch an Stellen, die man eher ungern vorzeigt. Musste ich aber. Irgendwann ließ die Scham dann nach, ich wollte nur noch gesund werden, irgendwie...
       - Ich begegnete unglaublich vielen Menschen, erlebte schlimme Schicksale mit, beobachtete viele traumatisierende Dinge. Vielen meiner Mitpatienten erging es sehr schlimm, einige litten unter starken Schmerzen, weinten und verzweifelten. Oft ekelte ich mich vor einigem, was ich mitansehen oder -hören musste, aber meist taten mir die anderen einfach unglaublich leid. Ich konnte kaum fassen, wieviel Ignoranz, Intoleranz und auch unterlassene Hilfeleistung es dennoch gab - und das in einem Krankenhaus. Auf der anderen Seite waren es oft genau diejenigen, die selbst schwer zu kämpfen hatten, die mir auf ihre Weise halfen, mich moralisch unterstützten oder mir eine Sorge abnahmen. Ich versuchte, mich immer zu revanchieren, so gut es ging.
       - Da meine Blutgerinnung gestört ist, blutet jede noch so kleine Wunde sehr lange nach. Einige der Kanülen, die mir für Infusionen gelegt werden mussten, verursachten deshalb starke Blutergüsse unter der Haut sowie starke Schmerzen. An meiner rechten Hand war es so schlimm, dass die Blutzufuhr zu einem meiner Finger behindert wurde und dieser noch wochenlang blau und schwarz war.
       - Meine Haut sieht sehr schlimm aus, viele Pflegeprodukte darf ich nicht verwenden, da diese lebertoxisch wirken könnten. Neben einer so genannten Steroid-Akne (ich bekomme hoch dosiertes Cortison) ist die Haut extrem trocken. Eines Abends wusch ich mir mit Wasser und einem weichen Lappen das Gesicht - die Haut begann zu bluten.

Das waren einige der schlimmsten Erlebnisse, an die ich mich gerade erinnere. Nach und nach werden mir noch mehr einfallen - und auch diese müssen aufgeschrieben werden. Ich ertrage es sehr schlecht, alles mit mir herumzutragen, es nicht verarbeiten zu können. Ich werde zu vielen der oben erwähnten Vorfälle noch genaueres berichten, nach und nach mehr Details ergänzen. Für heute bin ich müde.

Was mich jedoch genauso stark beeindruckt hat wie all das Negative, war die unglaublich große Welle an Zuneigung und Unterstützung, die mich vom ersten Tag an überrollt hat. Viele Menschen, von denen ich es nicht erwartete, nahmen Anteil an meinem Schicksal, boten sofort ihre Hilfe an, meldeten sich oft genau im richtigen Moment bei mir oder meinem Freund und halfen uns so durch viele schwere Stunden. Sie fanden genau die richtigen Worte oder Gesten, um uns Mut und Kraft zu geben. Dafür bin ich unglaublich dankbar.

Auch diesen Menschen werde ich hier noch viele Seiten widmen. Ich denke, ich habe im letzten Monat mehr über Liebe gelernt als in den 27 Jahren davor. Jedenfalls genug, um noch lange am Leben bleiben zu wollen. Genug, um kämpfen zu können.

Sonntag, 3. Juni 2012

Der Anfang nach dem Ende.

Ersteinmal muss ich ankommen.

Zuhause. Und in dieser Blog-Welt.

 

Worum geht es hier? Wer bin ich und bezwecke ich mit diesem Blog? Diese Fragen möchte ich zunächst kurz beantworten:

Ich bin eine Frau, 27 Jahre alt. Mein bisheriges Leben war normal, weitgehend unbeschwert, bis auf die vielen kleinen und großen "Problemchen", die man eben so hat. 2005 war bei mir eine so genannte "Autoimmunhepatitis" diagnostiziert worden, jedoch besserten sich meine Beschwerden unter den Medikamenten innerhalb weniger Monate, die Laborwerte sahen ebenfalls immer gut aus, so dass ich damit rechnete, auch weiterhin wie jeder andere Mensch leben zu können.
Ich lebte also. Studierte weiter, lachte mit Freunden, genoss das Leben, meldete mich zu selten bei meiner Familie, ärgerte mich über Alltägliches - alles ganz normal. Genauso normal, wie ich vor einigen Monaten beschloss, nach zweijähriger Fernbeziehung zu meinem Freund zu ziehen. Nach Berlin, wie aufregend und cool! Erst den Umzugsstress hinter uns bringen und dann Pläne machen, einfach leben, leben, leben.

Und nun?

Anfang Mai ging es mir "irgendwie nicht gut". Ich schob es auf eine Magenverstimmung, Lebensmittelunverträglichkeiten oder ähnliches. Es war gerade Freitag, ich dachte mir, wenn es bis Montag nicht besser sei, könne ich ja immer noch zum Arzt gehen. Es wurde nicht besser. Mit letzter Kraft schleppte ich mich zur nächstgelegenen Arztpraxis, für weitere Wege war keine Kraft mehr in mir. Die Ärztin sah mich an und sagte "Sie sind ja ganz gelb!"
Schlagartig fiel mir die Autoimmunhepatitis ein. Damals fing es auch so an: Übelkeit, Gelbsucht... Ich konnte der Ärztin gerade noch meine Vorerkrankung nennen, dann brach ich zusammen.

Diagnose: Leberzirrhose Child C, ich brauche eine Transplantation.

Von diesem Tag an verbrachte ich ungefähr 4 Wochen nonstop im Krankenhaus, bin erst seit vorgestern wieder zuhause. 

Es war ein Trip quer durch die Hölle.

Dieser Blog soll nun dazu dienen, meine Gedanken zu ordnen, Erlebtes aufzuschreiben, das in Worte zu fassen, was ich bisher nicht aussprechen konnte: das Grauen, die Angst, die Schmerzen, die Fragen und Antworten, die Schicksale anderer, den Ekel. Aber auch die Lichtblicke, die es immer wieder gab: Menschen, die mir beistanden, Hoffnung, Trost. Und natürlich: die Fakten über den Krankheitsverlauf, Statistiken, Namen...
Außerdem möchte ich es auf diesem Wege meiner Familie und Freunden ermöglichen, an all dem teilzuhaben, was mir passiert. Um ihnen einige schlimme Details nicht zuzumuten, werde einige Bereiche des Blogs vielleicht nicht öffentlich zugänglich sein.
Vielleicht lesen auch andere Betroffene oder Angehörige von Transplantationspatienten hier mit und sind an einem Gedanken- und Erfahrungs-Austausch interessiert, darüber würde ich mich freuen.

Ein weiterer erfreulicher Nebeneffekt wäre, wenn dem einen oder anderen Leser das Thema Organspende bewusst gemacht wird, Denkanstöße vermittelt werden... Belehren möchte ich niemanden, nur mittteilen, berichten.

Außerdem werde ich versuchen, eine Linksammlung anzulegen, mit Websites für Betroffene und Interessierte.

Aber zuerst: hier ankommen.