Mittwoch, 12. September 2012

Nicht allein im Dunkeln.

Was Freundschaften betrifft, bin ich nicht sehr sentimental veranlagt. Ich sammle keine Poesie-Alben voller kitschiger Kalendersprüche über wahre Freunde und Seelenverwandte in Verbindung mit Sonnenuntergangs-Strand-Fotos. Um ganz ehrlich zu sein, finde ich sowas sogar ziemlich zum Kotzen. Wenn einer meiner Facebook-Freunde solchen Kram verlinkt, bin ich jedes Mal in Versuchung, die Freundschaft umgehend zu kündigen. Grund: Geschmacksverirrung!
Es erscheint mir auch nicht überlebenswichtig, meinen Freunden ständig und überall zu beteuern, wie außerordentlich froh und dankbar ich bin, dass es sie gibt. Ich vergesse einen Freund nicht, wenn er sich eine Weile nicht bei mir meldet. Ich möchte von Freundinnen nicht "Süße" oder "Schatzi" genannt und mit Küsschen begrüßt werden. Ich bin auch nicht gekränkt oder um eine Freundschaft besorgt, sobald man sich keine stündlichen Updates über Twitter, Facebook oder SMS zukommen lässt. Genausowenig behellige ich im Gegenzug die anderen mit Statusmeldungen über meine derzeitigen Schlaf-, Ess-, Einkaufs- oder sonstigen Lebensgewohnheiten.
Im Lauf der Jahre hat es sich also ergeben, dass ich mich hauptsächlich mit Menschen umgebe, die diesbezüglich ähnlich denken. Keine große Gefühlsduselei, einfach leben und leben lassen. Viele habe ich online kennengelernt, über gemeinsame Interessen und Hobbies: Menschen, denen ich auf der Straße oder am Arbeitsplatz womöglich nicht aufgefallen wäre und umgekehrt. Computerspieler, IT'ler, Studenten, schräge Vögel... Entgegen vieler Vorurteile stellten sich nur die wenigsten als Perverse oder Psychopathen heraus. Höchstens als Nerds. Gegen die habe ich nichts (wenngleich bei meinen Eltern vermutlich stets die Alarmglocken läuteten beim Thema "Freunde aus dem Internet"). Und obwohl ich bei einigen immer wusste, was ich an ihnen habe und es bei vielen anderen einfach hoffte - überraschte es mich dennoch, wie sehr meine Freunde in der jüngsten Vergangenheit für mich da waren und sind.
Schon an den ersten Tagen im Krankenhaus bekam ich viele Nachrichten von ihnen. Sie waren geschockt und traurig als sie von meiner Diagnose erfuhren, ließen sich meine neue Nummer geben und meldeten sich. Einige von ihnen fanden so ehrliche, liebe und mitfühlende Worte wie ich sie gar nicht von ihnen kannte oder erwartet hätte. "Wir" sind doch eher unterkühlt. Nüchtern. Un-emotional. Beherrscht. Cool.
Trotzdem heulte ich vor Freude, als ich merkte, dass sogar der "seltsame Viel-Telefonierer" trotz manch fieser Bemerkungen meinerseits einfach für mich da ist, selbst 3 Uhr nachts, wenn ich mich zu Tode langweile oder weine, weil ich mich verlassen und einsam fühle. Bessere Freunde kann ich mir kaum vorstellen.

Als ich 6 Jahre alt war, am Tag meiner Einschulung, saß ein Mädchen neben mir und fragte mich, ob ich eine beste Freundin habe. Ich sagte nein, also beschlossen wir, von nun an beste Freundinnen zu sein. Das sind wir bis heute.Wir waren beste Freundinnen, als wir uns in den nächsten vier Jahren fast täglich stritten. Wir waren beste Freundinnen, als sie wegzog und wir jahrelang nur Briefkontakt hatten. Wir waren auch dann noch beste Freundinnen, als wir beide in unserer Heimatstadt studierten und uns dennoch eher selten trafen. Wenn wir einander brauchten, hatten wir uns: Als ich einige Tage lang keinen Strom hatte, wohnte ich bei ihr. Bei Liebeskummer half stets unsere eigene Milchshake-Kreation aus Grundschultagen: Man nehme einen Liter Milch und mindestens drei verschiedene Sorten Kaba-Pulver. Gut durchmischen und zu zweit innerhalb einer halben Stunde austrinken. Bauchweh garantiert.
Wir sind nicht mehr die sorglosen Kinder von damals. Wir mussten vieles dazulernen und auch vieles ohne einander ertragen, die meisten unserer Wege alleine gehen. Aber jedesmal, wenn ich hinfalle und mich hundeelend fühle, weiß ich - sie ist noch da. Und manchmal werden wir wieder Kinder. Dann legen wir uns mitten auf befahrene Straßen. Und lassen bei Regenwetter Drachen steigen. Und lachen über Bundeswehr-Soldaten.
Ich hatte Angst, ihr zu erzählen, wie es mir geht. Als ich sie anrief, war ich total verheult und hatte einen Kloß im Hals. Meine eigenen Worte kamen mir unwirklich vor: "Ich brauche eine Transplantation, es sieht schlecht aus." Einige Tage später stand sie in der Tür meines Krankenhauszimmers, war hunderte Kilometer weit gefahren um für ein paar Stunden bei mir zu sein. Das ist so ziemlich die beste Freundschaft, die ich mir vorstellen kann.

Außerdem gibt es Freundschaften, die man kaum beschreiben kann. Bei denen der Übergang zwischen "Bekannten", "Freunden" und "Seelenverwandten" irgendwie längst verschwommen ist. Freundschaft, die wellenartig mal stärker und mal schwächer zu sein scheint. Die man nicht in Worte fassen kann und muss.

Diesen einen Freund kenne ich seit ungefähr acht Jahren. Über das Internet. Getroffen haben wir uns nie.
Ich konnte ihm immer mal von meinem Alltag erzählen, wie es mit dem Studium voranging, wie es mit "der Männerwelt" gerade lief, in welche Stadt ich nun gerade wieder umgezogen war. Erstaunlicherweise erinnerte er sich immer an diese Dinge und fragte ab und zu danach, wie es mir ging. Von sich selbst verriet er wenig. Ich kenne seine Stimme, weiß, dass er etwas älter ist, sein Dialekt verrät seine ursprüngliche Herkunft, aber er wohnt schon länger in der Hauptstadt. Sehr viel mehr wusste ich nicht von ihm. Keinen Namen, kein Bild, keinen Beruf - nichts "Persönliches". Und doch so vieles mehr. Wir verstehen uns gut, sind auf einer Wellenlänge. Einen guten Bekannten hätte ich ihn vor einiger Zeit noch genannt.
An einem der ersten Tage im Krankenhaus hatte ich einen verpassten Anruf auf dem Handy. Und eine Nachricht auf der Mailbox. Von ihm. Ich hörte sie kurz nach meiner Diagnose, als ich verwirrt im Patienten-Aufenthaltsraum saß. Von da an rief er oft an, obwohl wir vorher nie telefoniert hatten. Und ich erfuhr vieles: seinen Namen, wo er gerade war, dies und jenes aus seiner Vergangenheit... und nicht zuletzt: dass er schonmal in einer ähnlichen Situation war wie ich nun. Im gleichen Krankenhaus, auf der gleichen Station, bei den gleichen Ärzten. Oft sagte er mir, dass ich bis zum nächsten Anruf durchhalten und kämpfen muss - meistens genau dann, wenn ich dachte, mir geht die Kraft aus. Er gab mir Ratschläge, wie ich allein mit der Dunkelheit um mich herum fertig werden kann und half mir, nicht den Verstand zu verlieren. Eines Tages klopfte er dann persönlich an die Tür und stand da grinsend, mit Blumen. Kurz darauf, noch am gleichen Tag, durfte ich das Krankenhaus verlassen. Eine bessere Freundschaft kann ich mir nicht vorstellen.

Es heißt ja, Freunde seien die Familie, die man sich selbst aussucht. Das mag sein. Jedoch hätte ich mir einige meiner Verwandten gar nicht anders aussuchen wollen, weil sie schon Freunde sind. Eine bessere Schwester hätte ich kaum finden können. Da wir seit Jahren nicht mehr in der gleichen Stadt wohnen, verständigen wir uns oft über das Internet, kurze Anrufe oder SMS. Letztere beinhalten manchmal nur einzelne Worte oder einen Smiley - aber ich weiß trotzdem, was gemeint ist und wie es ihr gerade geht.
So auch eines Abends, als ich völlig gerädert von der Hitze und der Magenspiegelung in meinem Krankenzimmer vor mich hin schwitzte und vor Langeweile nichts anderes zu tun hatte als den Song-Contest in Baku zu schauen. Sie sah ihn auch - und brachte mich mit sarkastischen SMS-Kommentaren bei jedem Beitrag zum Lachen.
Als ich entlassen war, entdeckte ich auf ihrer Internetseite, dass sie in den Wochen zuvor viele traurige Lieder gehört und an mich gedacht hatte. Un-sentimental und cool wie ich bin, heulte ich mal wieder los. Eine bessere Schwester könnte ich mir nicht vorstellen.

Es fällt mir schwer, in Worte zu fassen, was meine Freunde mir bedeuten und wie sehr sie mir auf unterschiedliche Art geholfen haben. Dass sie mich nicht im Dunkeln allein gelassen haben. Wie bedankt man sich für so etwas? Vielleicht sollte ich ihnen doch ein kitschiges Sonnenuntergangs-Foto oder einen abgedroschenen Poesie-Album-Spruch schicken....

1 Kommentar:

  1. Hallo Yellowgirl,
    es schön zu hören das in Deinem privaten Umfeld alles stimmig ist. Ich freue mich wirklich für Dich.
    Leider sieht das oft doch ganz anders aus. Als meine Mutter vor fünf Jahren so nach und nach bekannt gab das sie Krebs hat war das erst einmal ein Schock. Während unsere Sippe immer dichter zusammen rückte verabschiedeten sich einige Freunde. Vor allem meine Schwester und ich bekamen das sehr zu spüren. Als sei Krebs ansteckend. Dumme Sprüche wie: Was geht mich das an, waren noch echt harmlos.
    Für mich selber war das nicht ganz so schlimm, ich bin durch meine eigene Krankheit, Kummer gewöhnt.
    Aber auch bei mir waren es die Leute aus dem Netz bei denen ich mich auskotzen konnte und ein paar sehr enge Leute aus RL. Sie waren immer für meine Mutter, meinen Vater, meine Schwester und mich da.
    Nachdem meine Mutter das schlimmste hinter sich hatte kamen dann auch gewisse Leute wieder an gekrochen. So nachdem Motto die Gefahr ist gebannt, man kann wieder auftauchen mit Sprüchen: Na bitte ich habe doch immer gesagt, es wird alles gut.
    Wir habe nicht lange gefackelt und die besagten Leute in die Wüste geschickt.
    Meine Mutter hat sehr viel während der Chemo und Bestrahlung von anderen Patienten zu hören bekommen. Verlassene Partner, alleingelassene Kinder, Unverständnis, überforderte Mitmenschen usw. Mir haben sich oft die Haare im Nacken aufgerollt, wenn sie die Geschichten der anderen erzählt hat.. Ich finde solche Leute sollten sich schämen. Aber man trifft sich bekanntlich zweimal im Leben. Das tolle an der Sache war, das sich die Krebspatienten immer gegenseitig aufgebaut und unterstützt haben.

    Ich finde schön das er Dir im Moment gut geht. Und ich wünsche Dir das es auch so weiter geht und das ganz schnell einen Spender für Dich gefunden wird. Ich werde Deinen Blog auf jeden Fall weiter verfolgen und drücke Dir die Daumen.

    Nächsten Monat wird meine Mutter übrigens medizinisch geheilt erklärt werden. Und eigentlich wäre das ein Grund zu feiern, wenn letzte Woche nicht eine Freundin von ihr ihrem Krebs erlegen wäre.

    LG
    Sanni

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